Leseprobe 2 - Einmarsch der roten Armee



„Es ist Zeit, nach Uthausen zu fahren“, mahnte Mutter, „Du mußt genügend schlafen.“ Seit einigen Tagen verbrachte ich die Nächte auf der Couch im Wohnzimmer des Bürgermeisters. Er hatte die Eltern darum gebeten, weil noch immer die endgültige Besetzung durch Amerikaner oder Russen ausstand und er mich als Dolmetscher für beide Sprachen haben wollte. An diesem Abend spürte ich eine seltsame Unruhe in mir und keine Lust, loszufahren. Es war schon später als sonst. Mutter lag bereits im Bett. Fertig angezogen war ich, über meinem Schlafanzug trug ich wie in den Bombennächten einen Trainingsanzug, um bei einer Störung keine Zeit mit Anziehen zu verlieren. Die Zähne waren bereits geputzt. Was könnte ich jetzt noch tun, um die Abfahrt hinauszuzögern? Ich kramte in meinen Sachen nach einem Zettel von Nikolay, in dem er unsere Hilfe für die Kriegsgefangenen bestätigt hatte. „Heb das Papierchen auf“, hatte er fürsorglich gemeint, „vielleicht hilft es Euch mal, wenn wir nicht mehr da sind.“ Für alle Fälle steckte ich es in Mutters Arztkittel. 
Mutter mit ihrem Durchguck schaute mich nicht wirklich fragend an: „Offensichtlich magst Du nicht nach Uthausen fahren. Niemand zwingt Dich. Es ist schließlich nur Deine Hilfsbereitschaft für die Leute. Allerdings wäre es sicher passender gewesen, Herrn Apitzsch vorher in Kenntnis zu setzen, daß Du nicht mehr kommst.“ Das gab den Ausschlag, ich entschloß mich erleichtert, nur noch diese Nacht dort zu verbringen und fuhr los. Im Fenster sah ich Mutters Silhouette. Mit dem Waldweg war ich so vertraut, daß ich ohne Licht fuhr. Einmal hielt ich an. In der Ferne glaubte ich, das Getrappel von vielen Pferden zu vernehmen. Aber Wind kam auf und nur das vertraute Rauschen in den Kiefernkronen war zu hören. Am südlichen Dorfende lag hinter mehreren kleinen Häusern der Hof des Bürgermeisters am Waldrand. Die Haustür war unverschlossen, Apitzschs schliefen bereits. Ich zog schnell meinen Mantel aus und eine Wolldecke über mich. Beim Einschlafen fühlte ich wieder diese merkwürdige Unruhe, aber dann schlief ich ein mit der Vorstellung, wie Mutter mir aus dem Fenster zuwinkte. 
Ein sonderbarer Ton weckte mich. Eine Frau heulte draußen auf der Straße. „Huuuh, die Russen sind da, die Russen sind da.“ Ich rannte an die Türe und machte Licht. Vor dem Haus erkannte ich die Bäuerin vom letzten Hof am anderen Dorfende, nahe der Durchgangsstraße Berlin-Leipzig. Nur mit einem Hemd und einem Strumpf war sie bekleidet, ihr kurzer Zopf baumelte auf dem Rücken. Um eine möglichst ruhige Stimme bemüht fragte ich: „Was tun sie?“ Sie starrte mich mit angstvoll aufgerissenen Augen an: „Ich weiß nicht, aber sie kommen. Als ich sie im Haus hörte, bin ich durchs Fenster in den Garten gesprungen und hierher gekommen.“ „Kommen Sie schnell herein. Ich sage eben dem Bürgermeister Bescheid, daß er herunter kommt.“ Das Ehepaar war bereits auf und während Herr Apitzsch sich fertig anzog, fragte seine Frau mit zitternder Stimme: „Oh Gott, was glaubst Du, werden sie mit uns machen?“. Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte und hielt mich an das Nächstliegende; sie sollte sich anziehen und auch herunter kommen. Dann ging ich an die Haustür und horchte in die Nacht. Nur das Gebell der Hofhunde verriet das Näherkommen der unsichtbaren Bedrohlichkeit. Jetzt schlug der Hund im Eckhof, nur noch wenige Häuser entfernt, an. Kaum hatte ich das in der Küche mitgeteilt, da wurde auch schon laut an der Haustür geklopft. Der Bürgermeister, ein mittelgroßer starker Mann mit einem imposanter Bauernschädel und sehr gutmütigem Gesicht öffnete und drei Soldaten mit Käppi betraten, gefolgt von einem Offizier mit Tellermütze, das Haus. Nun riß ich mich zusammen und begrüßte sie auf russisch: „Sdravstvuyte tovarischtschi, tschto wy zhelaete? - Was wünscht Ihr? Das ist der Bürgermeister.“ Offensichtlich überrascht erwiderten sie den Gruß. Zwei von ihnen gingen voraus in das Amtszimmer und schauten herum, Herr Apitzsch und ich folgten, die beiden anderen blieben in der Türe stehen. „Sprosi u nego, yest-li oruzhie?- Frag ihn, ob er Waffen hat?“ Ich übersetzte, aber leider unterlief dem Bürgermeister nun eine riskante Dummheit. Er verneinte die Frage. Während ich das gerade übersetzte, beugte sich einer der Soldaten unter den Schreibtisch und zog vier Jagdgewehre hervor. „Und was ist das?“, fragte aus dem Hintergrund der Offizier mit drei Sternen auf den Epauletten. „Warum haben Sie die Frage verneint, wo Sie doch Waffen haben“, fragte ich den inzwischen erbleichten Bürgermeister. „Es sind Jagdgewehre, die mir die Amerikaner vor ein paar Wochen als Souvenir geschenkt haben.“ „Er hat die Jagdgewehre vergessen, er hat ja auch keine Munition“, versuchte ich den Soldaten die Sache als harmlos darzustellen. Immerhin hörten sie mir zu. „Aber es sind trotzdem Waffen, er sollte nicht lügen. Sind übrigens Soldaten im Haus?“ Diese Frage beantwortete ich direkt mit Nein. Hierauf verließen sie das Haus, ohne die übrigen Räume inspiziert zu haben.
Nun wollte ich sofort nachhause fahren. „Ich nehme den hinteren Hofausgang und den kleinen Waldpfad“, kündigte ich meine Abfahrt an. „Ach bitte, bleib doch noch ein bißchen“, beschwor mich Herr Apitzsch, „vielleicht kommen sie noch mal zurück. Ohne Dich bin ich doch verloren.“ Wider mein Gefühl ließ ich mich breitschlagen. Und nun nahm das Schicksal seinen Lauf. Wenige Minuten später kehrte einer der Soldaten zurück und fragte nach der Dolmetscherin. „Starschi Leytenant Vas vysyvayet - Der Oberleutnant wünscht Ihr Erscheinen“, sagte der Soldat höflich und bestimmt. Schon auf den Treppenstufen wurden meine Knie unangenehm weich. Auf der Straße standen die drei anderen Uniformierten. Es war noch dunkel, aber am Himmel kündigte sich die Dämmerung an. Der Offizier drehte sich zu mir: „Wir benötigen einen Dolmetscher, um den Leuten in den Häusern zu sagen, daß sie sich nicht fürchten müssen. Sag ihnen, wir kontrollieren nur wegen Soldaten oder Waffen.“ Zunächst lief alles ganz ruhig. Beim Nachbarhaus rief ich den Leuten an der Tür zu, was man mir aufgetragen hatte. Zwei Soldaten sahen sich kurz im Haus um, wir anderen warteten draußen. Auch im nächsten Haus erkannten die Leute meine Stimme und weil ich normal sprach, beruhigten sie sich und die Kontrolle war schnell erledigt. Inzwischen tippte der Offizier auf mein polnisches Stoffabzeichen. „Du bist Polin, und Du sprichst Russisch, das ist gut.“ 
Das polnische Abzeichen, ich hatte es schon fast vergessen. Vor zwei Tagen hatte mich abends auf dem Weg zu Apitzsch Andrzey, einer der polnischen Zivilarbeiter, angehalten. „Hier nimm das“, sagte er und steckte mir eine Sicherheitsnadel mit einem kleinen roten und einem weißen Bändchen oben ans Mantelrevers. „Das ist alles, was ich für Dich tun kann, es ist unser polnisches Nationalabzeichen. Es soll Dich schützen vor Mißhandlung oder Vergewaltigung, wenn die Russen kommen. Wir werden Dich auch schützen, wenn wir in der Nähe sind. Du warst gut zu unseren Leuten, deshalb bitte, nimm es an.“ Damit war er fortgegangen. Merkwürdig, dieser Andrzey mit seinen zwar intelligenten aber stechenden Augen im blassen Gesicht war mir nicht sonderlich sympathisch gewesen. Seine Landsleute begegneten ihm mit Respekt trotz seiner häufig abfällig klingenden Art. Vor seinem Spott war auch seine Freundin Pascha, eine ukrainische Polin, nicht sicher. Als ich ihn einmal nach ihr fragte, weil sie krank war, reagierte er mit einem verächtlichen Ausdruck. „Aber Andrzey, das ist doch Deine Freundin“, hatte ich ihn verwundert erinnert. „Bah, ich spiele nur mit ihr, sie hatte zuviele Freunde, ihr Ruf ist hin.“ Damit war er seines Weges gegangen. Die Tragweite seines großzügigen Angebots konnte ich freilich erst später ermessen 
 
 

 

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