Leseprobe 3 - Verhöre
Am nächsten Morgen brachte man mich nach Glindow bei Potsdam in
einen Bauernhof am Ortsrand. In der mit kleinbäuerlichem Nippes ausgestatteten
Stube eröffneten mir Oberleutnant Kruglov und ein Hauptmann Yusupov,
ich wäre eine englische Spionin und deshalb festgenommen. Im Vollgefühl
meiner Integrität glaubte ich, diesen ungeheuerlichen Vorwurf ohne
weiteres entkräften zu können, aber dann begannen Kruglov und
Yusupov mit ihren Verhören. Meist zu Zweit unterzogen sie mich ebenso
brutalen wie vielseitigen Befragungsmethoden. Dabei verfolgten sie offenbar
mehrere Ziele: Einerseits sollte ich Spionagetätigkeit zugeben, andererseits
wollte man mich zur Mitarbeit verpflichten. Zweiundsiebzig Stunden traktierten
sie mich ohne nennenswerte Pausen, während sie sich abwechselten.
Den zunächst akzeptierten Dolmetscher mußte ich bald unterbrechen,
weil er mehrfach sinnentstellend übersetzte, womit ich zusätzliche
Wutausbrüche bei Kruglov und Yusupov hervorrief. „Ich sehe“, meinte
der Dolmetscher dann ziemlich unfreundlich, „Sie sprechen ausgezeichnet
Russisch, meine Hilfe ist überflüssig“, und ging. Zwischendurch
wurde mir mehrfach ein Revolver in den Nacken gedrückt, den sie sicherten
und entsicherten, Während der Nacht wiederholten sie dieses Manöver
auch in einer Hofecke, stießen mir dann die Waffe anstatt abzudrücken
unsanft ins Genick, um festzustellen, daß die Kugel zu schade für
mich wäre. Ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen. Ich wollte aber
als anständiger Mensch sterben und mich nicht zu etwas Unehrenhaftem
zwingen lassen.
Die fünfte Nacht brach an, denken konnte ich eigentlich nicht
mehr, nur noch pauschal Ablehnung entgegensetzen. Wieder hatte sich ein
Schwall von Beschimpfungen über mich ergossen. Plötzlich zog
Kruglov einen Paß unter einer Akte hervor. und hielt ihn mir aufgeschlagen
hin: „Ist das nicht Deine Mutter?“ Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen,
vor mir sah ich Mutters Paßbild. Dann erschien der Dolmetscher und
hielt mir einen Zettel hin: „Ein Brief von Deiner Mutter.“ „Liebe Hergart“,
schrieb sie, “hoffentlich sehen wir uns bald. Einhart ist gekommen.„ Und
gleich darunter „Lipe Dochter, mußt Du sagen zu Oberleutenant und
Kapitän alles, was ist bekannt um Engländer, und tun was Dir
sagen, warum was kannst Du dann eher frei sein. Deine Mutder.“ Ich stutzte
innerlich. Das war zwar Mutters Schrift und die ersten zwei Zeilen wirkten
auch echt. Aber dann, die russische Syntax in den nächsten Zeilen
konnte nicht von Mutter stammen, ganz abgesehen von den Schreibfehlern.
Ob sie das überhaupt geschrieben hatte? „Das hat doch Deine Mutter
geschrieben oder“, brüllte Kruglov von hinten. Ich überlegte
fieberhaft, vielleicht wollten sie mich für dumm verkaufen mit solch
einer plumpen Fälschung? Ich zog vor, in der Aufregung nichts bemerkt
zu haben, wenn sie mich auf die Fehler festnageln wollten. „Ja, sie hat
das wohl geschrieben.“ „Na also, dann bequemst Du Dich vielleicht jetzt,
Lügen und Widerstand aufzugeben.“ Im übrigen kamen sie nicht
wieder auf den Brief zurück.
„Nun denn, wirst Du endlich unterschreiben? Wir erschießen Deine
Mutter ebenso wie Dich.“ „Ach nein, bitte nicht, wer soll für die
kleinen Geschwister sorgen.“ Diese Eröffnung erschreckte mich zutiefst,
was meine Peiniger, vor mir stehend, mit zufriedenem Grinsen quittierten.
„Na gut, dann unterschreibe, daß Du für uns arbeiten wirst.“
„Nein.“ „Dann wolltest Du also gegen uns arbeiten! Wenn Du nicht unterschreibst,
wird Deine Mutter umgelegt! Klar?“
Eine Weile kämpfte ich noch. Wie sollte ich mich entscheiden?
Die Zeit lief. Denken konnte ich kaum mehr, hinter den Augen war es leer.
Schließlich, in der Hoffnung, Mutter damit zu retten, unterschrieb
ich, daß ich beabsichtigte, gegen die Sowjetmacht zu arbeiten. Es
war zwar eine Lüge, die zusammenhanglos im Raum stand, aber sie wollten
mich ja ohnehin erschießen. In meiner Ahnungslosigkeit hoffte ich,
daß ich damit endlich Ruhe vor weiteren Quälereien fände
und Mutter würden sie nun nichts mehr tun. Aber kaum hatte ich den
Federhalter aus der Hand gelegt, da hielt mir Jusupov eine Zeitung hin.
„Hier, lies mal.“ Fettgedruckt berichtete die Pravda vom 27.5.47: „Otmena
smertnoy kazni - Abschaffung der Todesstrafe.“ „Ich widerrufe meine Unterschrift“,
schrie ich außer mir. „Morgen“, sagten Jusupov und Kruglov wie aus
einem Munde. Dann fühlte ich einen Schlag am Hinterkopf. Erst im Keller
neben dem Waschkessel kehrte mein Bewußtsein wieder zurück.
Ziemlich benommen betrachtete ich meine Umgebung. Die Tür zum Hof
war verriegelt. Auf dem Deckel des Waschkessels stand ein Teller mit Essen;
indes Hunger fühlte ich nicht.
Warum war ich bloß immer noch am Leben? Ich mußte weinen,
hilflos, total erschöpft, der Hinterkopf tat weh. Nach einer Weile
versiegten die Tränen, ich brütete vor mich hin. Dann fiel mir
das Lied ‚Wer nur den Lieben Gott läßt walten und hoffet auf
ihn alle Zeit‘ ein. Die erste Zeile des Kirchenliedes hatte ich in einer
Verhörspause mit einem Löffel in die weiße Tünche
über der Tür gekratzt. Sie hatten es nicht entdeckt, es stand
noch da. Die Worte strömten eine wundersame Ruhe auf mich aus. Willkür
und Brutalität gab es damals, als sie geschrieben wurden, auch.
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