Leseprobe 1 - Kindheit
1927 wurde Vater als Professor für Landwirtschaftliche Betriebslehre
an die Universität Jena berufen. Wir wohnten ländlich malerisch
am Stadtrand auf dem Beutenberg über dem Saaletal. Das umgebende Thüringer
Land war reich an landschaftlicher Schönheit. Als Dreijährige
lernte ich in der Saale schwimmen, die mir damals zugänglicher erschien
als der gewaltige majestätische Rheinstrom, an dem wir die andere
Hälfte des Jahres verbrachten. Tiefgrün und sehr geheimnisvoll
floß sie zwischen den Bäumen, ein eindrucksvoller Schauplatz
für Märchen und Geschichten, die Mutter uns erzählte. Jenseits
der Saale lagen Tennisplätze, die im Winter als Eisplätze zum
Schlittschulaufen gespritzt wurden. Mutter zog uns vier Hosen übereinander
und schickte uns aufs Eis mit den Worten: „Wenn Ihr fünfzig mal hingefallen
seid, kommt Ihr wieder zu mir“. Ich konnte nicht bis Fünfzig zählen,
aber es war mir klar, daß wir auf uns selbst angewiesen waren, während
sie Eiskunstlauf übte. Wir verließen Jena 1934, als Vater an
die Universität Leipzig berufen wurde. Des Rufs nach Berlin wurde
er damals nicht für würdig befunden. Onkel Carlos Wilmanns, der
als Psychiater an der Universität Heidelberg lehrte, hatte in seiner
Vorlesung Anfang der dreißiger Jahre Hitler als Beispiel für
hochgradige Hysterie angeführt und deshalb 1933 seinen Lehrstuhl verloren.
Seine jüdische Frau emigrierte rechtzeitig mit den Kindern in die
USA. Außerdem war Vaters Schwester Else mit dem jüdischen Bankier
Ernst Benfey verheiratet, der - obschon dekorierter Teilnehmer im Weltkrieg
1914-18 - gleichwohl 1943 in das KZ-Theresienstadt verbracht wurde, wohin
sie ihn begleitete. Beide kehrten unversehrt nach Göttingen zurück.
Unser Leipziger Zuhause war die Dienstwohnung des Direktors der landwirtschaftlichen
Institute in der Johannisallee. In einer geräumigen Villa der Jahrhundertwende
bewohnten wir über dem Institut für landwirtschaftliche Betriebslehre
den ersten Stock. Durch einen Verbindungsgang waren die übrigen Institute,
Labors, der Kuhstall und der Versuchsgarten angeschlossen, ein interessantes
Labyrinth für uns Kinder. Mit dem Sohn des Hausmeisters übten
wir heimlich Skispringen im Bienengarten am Rande des Johannistales; er
stibitzte den Schlüssel dazu bei seinem Vater.
Mutter verstand es, mit wenigen schönen Möbeln und Teppichen
eine stilvolle persönliche Atmosphäre zu schaffen, in der Ahnenbilder
und Erbstücke mit ihrer Geschichte unsere Phantasie beflügelten.
Früh entwickelten wir Interesse an den Vorfahren. Als freie Bauern
saßen Vorfahren väterlicher- und mütterlicherseits auf
westfälischen Höfen, der Schrakamphof bei Mettingen besteht noch
heute. Evangelische Patrizier wirkten in Bremen, das Familienwappen befindet
sich dort im Rathaus, und katholische Patrizier waren in Münster am
Prinizipalmarkt ansässig. Von Überseekaufherren, Offizieren,
Ärzten, Pfarrern, Orgelbauern erfuhren wir, ebenso von Privatgelehrten
und einer Reihe von Universitätslehrern seit dem 18. Jahrhundert,
deren Wirken auch über ihre Zeit hinaus Geltung behielt.
Großvater Wilhelm Wilmanns, 1844 geboren, unterrichtete nach
dem Studium am Grauen Kloster, Berlins berühmtem Gymnasium, das er
auch als Schüler besucht hatte. Aufgrund zahlreicher Veröffentlichungen
wurde er als Professor für Germanistik an die Universität Greifswald
und später nach Bonn berufen. Seine Vorlesungen und Hauseinladungen
besuchte auch der Kronprinz und spätere letzte Kaiser Wilhelm II;
gleichwohl lehnte der Großvater die Erhebung in den Adelsstand ab.
Sein Ehrengrab wird in Bonn gepflegt.
Mutters Vater, Wilhelm Schrakamp, war früh verwaist im Heerdekolleg,
einer Familienstiftung in Münster, erzogen worden. Der elegante liebenswürdige
Berufsoffizier ohne Vermögen hatte durch Verzinsung hohe Schulden,
als er der schönen Julie Weidtman begegnete. Es war bei Beiden Liebe
auf den ersten Blick. Der 36jährige nahm seinen Abschied, arbeitete
sich in die Kommunalverwaltung ein und leitete dann das Amt Löhne
in Westfalen, wo er auch ein Ehrengrab hat.
In Leipzig achtete Mutter auf die Pflege der Musik und hielt uns zu
regelmäßigem Üben an. Früh bekamen Bruder Ingo und
ich Stücke zum Zusammenspielen auf, was immer wieder zu lebhaften
Auseinandersetzungen über Tempi oder Töne führte. Das Musikzimmer
mit dem Blüthner Flügel lag über dem Seminarraum des Instituts,
weshalb wir während nachmittäglicher Lehrveranstaltungen dort
keinen Lärm machen sollten. Indes vergaßen wir das mitunter,
dann klopfte man unten mahnend mit dem Zeigestock an die Decke. Einmal
erschien Vater sogar höchstpersönlich und fuchsteufelswild, wie
er das nannte, um uns zur Ordnung zu rufen und ernstere Maßnahmen
mit dem Rohrstock anzukündigen. Solche Ereignisse wurden dann im Jahresüberblick
beim Institutsfest von seinen Assistenten genüßlich in Erinnerung
gebracht. Abends vor dem Schlafengehen kam Vater ins Musikzimmer und wir
sangen klassische Volkslieder und geistliche Lieder, die Mutter auf der
Laute oder am Flügel und mit der zweiten Stimme begleitete. Regelmäßig
besuchten wir auch die Motetten in der Thomaskirche.
Uns Kindern wurde freilich früh bewußt, daß die in
unserer Familie gepflegten, liberalen, weltoffenen, geistigen und schöngeistigen
Interessen und Traditionen durchaus unvereinbar waren mit dem, was in den
dreißiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts außerhalb
des Hauses in der Schule und darüber hinaus vor sich ging. Nachhaltig
schärfte man uns ein, Widersprüche hinzunehmen und zu schweigen
bei offiziellen Themen, zu denen zuhause andere Meinungen vertreten wurden.
Unsere Freizeit war voll besetzt mit Musik, Sport und Fremdsprachen.
Befreundet war ich mit Kätchen Weichel, deren Vater Flugzeuge bei
Junckers einflog. Die Atmosphäre in ihrem Zuhause war großzügig
und angenehm.
Kätchen war älter als ich und nahm die Schule ungemein lässig.
Das imponierte mir sehr und so gewöhnte ich mir manche Ängste
ab. Ihre Freundschaft erwies sich in einer schwierigen Lage. Im Gymnasium
wurde der Beitritt zu den JM (Jungmädchen, der Hitlerjugendorganisation
für Mädchen unter 14 Jahren), überprüft, weshalb ich
in der Quinta zwar nicht begeistert aber zunächst noch einigermaßen
arglos zu diesem Verein ging. Umgehend bekam ich die unangenehmste Aufgabe
aufgehalst, zweimal in der Woche Befehle auszutragen, so hieß die
Aufforderung, zu den Veranstaltungen der JM zu erscheinen. Dafür mußte
ich die Mädchen aufsuchen, um ihre Kenntnisnahme unterschreiben zu
lassen. Auch berührte mich der Inhalt der nachmittäglichen Veranstaltungen
ebenso unangenehm wie öde. Kätchen schaffte es als Sportbeauftragte
bei den JM, mich als Sportwart zu sich in den Westen Leipzigs zu holen.
Auf einem großen Sportplatz am Rosental mußte ich Sportgeräte
ausgeben und für die Rückgabe aller Gerätschaften sorgen.
Das war unpolitisch, wenngleich zeitaufwendig. Nach einer Lungenentzündung
wurde ich mit einem ärztlichen Attest von weiterem JM-Dienst befreit.
Meine Eltern führten ein offenes Haus, besonders ausländische
Akademiker und Künstler gingen tagsüber ein und aus. Zu unseren
nahen Freunden zählten wir den drahtigen, amüsant bissigen britischen
Vizekonsul Charles Stewart Watkinson, genannt Cheeky, Georg Strasser, einen
charmanten, geistreichen ungarisch-jüdischen Chemiker und seine Frau
Ilona, eine Cellistin von ungemein spritziger, wenngleich sehr launischer
Wesensart sowie die zarte, sehr hübsche amerikanische Geigerin, Mary
Ann Culmer, die sich nach der Konzertreife für Violine auf das Dirigentenexamen
vorbereitete. Mary Ann hatte stets knallrot geschminkte Lippen, die sie
häufig mit Hilfe ihres Taschenspiegels nachzog. Mutter begleitete
sie mitunter auf unserem Blüthner Flügel und verstand es, ihr
heftiges Lampenfieber etwas zu dämpfen. Cheeky und Onkel Strasser
nahmen uns derweil in die berühmten Leipziger Cafehäuser Felsche
und Hennersdorf oder zum Schwimmen in das mondäne Ipa-Bad mit; solche
Abwechslung genossen wir sehr. Und wir hörten englische und amerikanische
Schlager, die in Deutschland verboten waren.
Mehrmals im Jahr und vor Weihnachten gaben meine Eltern größere
Teeeinladungen für ausländische Akademiker der Universität.
In fünf Zimmern waren größere und kleinere Tische gedeckt.
Wir Kinder durften dabei sein, servieren helfen und mit Hausmusik und ungeachtet
der Mißbilligung seitens der Nazis im Advent mit einem Krippenspiel
zum Programm beitragen.
Kurz vor dem Krieg hatten wir von Onkel Gustav, der bei AGFA in Wolfen
den Farbfilm entwickelt hatte, das Heidehaus übernommen. Der elegant
gestaltete, jedoch keineswegs winterfeste und technischen Komfort entbehrende
Holzbungalow lag in der Dübener Heide, einem waldigen Naturschutzgebiet
zwischen Bitterfeld und Wittenberg mit Badeseen, Sandstränden und
vielen wilden Beeren und Pilzen. Es gab nur Petroleumlampen, keine Elektrizität,
das Wasser mußten wir 100 m entfernt beim Nachbarn holen und das
gewisse Häuschen mit Eimer stand entfernt am Zaun. Gekocht wurde mit
einem Spirituskocher oder auf dem winzigen Herd mit einer Feuerstelle.
|